Strafprozess: Wohin des Weges?
Wie? Strafrecht? Damit habe ich doch nichts zu tun! So denkt wohl der Eine oder die Andere. Doch rascher als gedacht, sind Sie in ein Strafverfahren involviert, sei es, weil Sie in einen Verkehrsunfall verwickelt sind, eine Drittperson Sie verunglimpft hat oder weil parallel zu einer Forderungsstreitigkeit über ein Strafverfahren mögliche Beweismittel gesichert bzw. Abklärungen getätigt werden sollen. Nach welchen Regeln ein Strafverfahren abläuft und was Ihre Rechte darin sind, ist in einem solchen Fall von zentraler Bedeutung. Das regelt die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO). Das Parlament will diese, obwohl erst knapp 10jährig, revidieren und damit auch praxistauglicher machen. Wir werfen einen Blick darauf!
Erst seit dem 1. Januar 2011 hat die für die gesamte Schweiz geltende StPO die zuvor kantonal unterschiedlichen Verfahrensordnungen abgelöst. Nicht wenige kantonale Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaften und Polizei) zeigten wenig Freude am neuen umfassenden Regelwerk und waren zumindest zeitweise bestrebt, bisherige Gewohnheiten aus ehemaligen kantonalen Verfahrensvorschriften beizubehalten, selbst wenn die neue StPO Gegenteiliges vorgab und sich eine Verfahrenspartei wehrte. Auch die Frage der Praxistauglichkeit stellte sich immer häufiger. Zahlreiche kantonale und höchstrichterliche Urteile drehten sich um zentrale Aspekte des Strafprozesses als solches und schufen Grundsätze, die nun im Rahmen der Revision ebenfalls Eingang ins Gesetz finden sollen.
Im Einzelnen (nicht abschliessend):
- a) Teilnahmerecht
Häufig in der Kritik stand und steht noch immer die bisherige Regelung der Teilnahmerechte. Das heutige Recht erlaubt weitestgehend die Teilnahme an sämtlichen Beweiserhebungen, d.h. auch an Einvernahmen von Zeugen und Mitbeschuldigten. Das kann zu einem angepassten Aussageverhalten und nicht zuletzt zu ineffizienten und langwierigen Verfahren führen. Trotz aller Schwierigkeiten mit dem Teilnahmerecht wird auch mit der Botschaft zur geplanten Revision der StPO betont, dass das heute bestehende Teilnahmerecht grundsätzlich beizubehalten sei. Mit dem neuen Recht soll hier nur „massvoll“ eingewirkt werden, indem das Teilnahmerecht der beschuldigten Person eingeschränkt werden kann, wenn sie sich zum Thema, welches Gegenstand der Einvernahme ist, noch nicht selber geäussert hat.
Kommentar: Es ist höchst fraglich, ob mit dieser Massnahme die angestrebten Ziele (authentische Aussage, Verfahrensbeschleunigung) erreicht wird. Heute wie künftig kann die beschuldigte Person ihre Aussage ganz oder teilweise zurückhalten und sich – ohne dass ihr dies zum Nachteil gereichen darf – später z.B. schriftlich zu den ihr gestellten Fragen äussern, nachdem sie Einsicht in die Akten und damit auch in die Protokolle bzw. Aufzeichnungen über diejenigen Befragungen erhalten hat, an welchen sie zuvor nicht hat teilnehmen dürfen. In Einzelfällen kann die geplante neue Regelung zwar positiv wirken, im Allgemeinen dürfte sie aber zahnlos bleiben und die Verfahren nur zusätzlich verlängern, indem die Beschuldigten ihre Aussagen tendenziell noch später machen als heute.
- b) Protokollierung / Aufzeichnung von Befragungen
Mit dem neuen Prozessrecht sollen grundsätzlich alle Einvernahmen technisch aufgezeichnet werden und das Protokoll dazu nachträglich erstellt werden können. Die Aufzeichnung ist zu den Akten zu nehmen.
Kommentar: Eine Massnahme mit Vor- und Nachteilen! Einvernahmen dürften dadurch rascher durchgeführt werden und auch Vorgänge nonverbaler Kommunikation finden audiovisuell Eingang in die Akten. Gleichzeitig dürften die befragte Person, wie auch die Anwälte noch stärker „gefordert“ sein, Fragen und Antworten laufend (digital) und möglichst wortgetreu mitzuschreiben, um einerseits – wo notwendig – mit Anmerkungen korrigierend bzw. mit Ergänzungsfragen klärend Einfluss nehmen zu können.
- c) Siegelungsfrist
Innert welcher Frist der Antrag auf Siegelung („Verschluss“) von sichergestellten Unterlagen oder Daten erfolgen kann, ist nach heutigem Recht nicht konkret geklärt. Auch das künftige Recht soll hierzu keine in Tagen bemessene grundsätzliche Frist, enthalten, sondern einzig den Hinweis, dass dies „unverzüglich“, spätestens innert 10 Tagen zu geschehen hat.
Kommentar: Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die anstehende Revision nicht dazu genutzt wird, auslegungsbedürftige Begriffe durch konkrete Fristen in Anzahl Tagen zu ersetzen und auch die Frage der Widerrufbarkeit eines Siegelungsverzichts mittels Gesetzesvorschrift zu regeln. Erfahrungsgemäss bildet der Zeitpunkt des Siegelungsbegehrens immer wieder Streitgegenstand. Eine klare Gesetzesvorschrift würde allen Beteiligten dienen!
- d) DNA-Profil
Das Bundesgericht hat über die bestehende gesetzliche Regelung hinaus entschieden, dass ein DNA-Profil nicht nur zur Aufklärung der Tat erstellt werden darf, welche Gegenstand des Verfahrens ist, sondern auch, um mögliche zukünftige und eventuell bereits begangene, aber noch nicht bekannte Straftaten der beschuldigten Person aufzuklären. Das soll nun auch im neuen Prozessrecht so festgehalten sein.
Kommentar: Was für die Strafverfolgungsbehörden „praktisch“ und „willkommen“ tönt, bringt das bisherige Gleichgewicht zwischen Untersuchungsoptionen und Verteidigungsrechte ins Wanken. Es besteht das Risiko, dass künftig routinemässig von praktisch allen Beschuldigten (nicht: Verurteilten!) ein DNA-Profil erstellt wird, wenn das einzige Erfordernis dazu (wie im Entwurf vorgesehen) darin besteht, dass das DNA-Profil zur Aufklärung anderer begangener oder zukünftiger Straftaten gebraucht werden kann.
- e) Zivilforderung
Nach heutigem Strafprozessrecht kann der Privatkläger eine allfällige Zivilforderung gegen den Beschuldigten auch erst sehr spät im Verfahren beziffern und begründen. Für den Beschuldigten, wie auch das Strafgericht, das notabene nur „im Grundsatz“ darüber entscheiden kann und im Übrigen an das Zivilgericht verweist, ist diese Situation suboptimal. Mit dem neuen Recht ist die Zivilforderung spätestens innerhalb der Frist zu beziffern und zu begründen, innert welcher im Hauptverfahren noch Beweisanträge gestellt werden können. Sodann soll die Staatsanwaltschaft künftig gewisse Zivilforderungen im Strafbefehlsverfahren beurteilen können.
Kommentar: Beides ist zu begrüssen!
Fazit:
Bis zur Umsetzung der Revision der StPO dürften noch einige Monate oder wenige Jahre verstreichen. Zwar hat die Rechtskommission des Nationalrates im Februar 2020 beschlossen, auf die Vorlage einzutreten. Doch darf dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass – analog zu den unterschiedlichen Positionen der Strafuntersuchungsbehörden bzw. der VerteidigerInnen – die politischen Meinungen zu den einzelnen Revisionspunkten teilweise noch immer sehr konträr lauten und langwierige parlamentarische Diskussionen zu erwarten sind. Gut möglich, dass die revidierte StPO gleichzeitig mit dem neuen Strafregisterrecht auf Anfang 2023 in Kraft tritt.
29. Mai 2020
Reto Marbacher